Die Wunderblume von Edemissen

In hannoverscher Zeit wurden die Kavalleristen in jedem Jahre zu einzelnen Bauern auf die Dörfer ins Quartier gelegt. Sie blieben dort fast ein Vierteljahr. Ihre Hauptaufgabe war die Pflege des Pferdes. Wenn der Reiter sein Pferd geputzt hatte, half er dem Bauern wohl bei der Arbeit in Feld und Garten. Dafür waren seine Gastgeber dankbar und verwöhnten ihren Reiter, der ganz zur Familie gehörte. In manchem Bauernhause heißt heute noch die Kammer, in der der Reiter wohnte, die „Ryterkamer“, so wird die Erinnerung an jene Zeit aufrecht erhalten. In Edemissen hat man darüber hinaus noch eine Sage eigenartigen Inhalts bewahrt.

Bei einem Edemisser Bauern wohnte einstmals ein hannoverscher Reiter. Das war zwar ein guter Kerl, aber er konnte das Trinken und das Kartenspielen nicht lassen. Traf er einen seiner Kameraden, so ging das leichtsinnige Leben los. In irgendeinem Kruge wurde eingekehrt, und dann kreiste der Becher. Hatte der Reitersmann ein wenig zuviel getrunken, so fing er an, ganz furchtbar zu fluchen. Er führte gotteslästerliche Reden und gebärdete sich, als sei er mit dem Teufel im Bunde. Das tat ihm zwar leid, wenn der Rausch verflogen war, und er gelobte auch Besserung. Die guten Vorsätze hielten einige Tage an, dann aber wurde die Begierde in ihm so groß, daß er sich auf das Roß schwang und zu einem seiner Kameraden ritt, um das liederliche Leben fortzusetzen. Er trieb es toller als je, und mancher ernste Mann sagte ihm ein schlimmes Ende voraus.

In einer dunklen Nacht kam der Reiter, der sich wieder einmal Trunk und Spiel ergeben hatte, auf seinem Pferde nach Hause geritten. Plötzlich sprang ein Stück Wild über den Weg. Das Pferd scheute und wich mit scharfem Ruck nach der Seite aus. Ohnmächtig glitt der Reiter vom Rücken seines Pferdes herab, blieb mit dem einen Fuß im Steigbügel hängen und wurde zu Tode geschleift. In wilden Sprüngen eilte das aufgeregte Tier auf den Hof. Die Bauersleute waren von den Hufschlägen wach geworden. Als der Hofherr nach dem Rechten sehen wollte, fand er den Reiter völlig zerschunden in seinem Blute liegen. So nahm das Leben des Unglücklichen ein jähes Ende, denn keine Mühe und Sorgfalt konnte ihn wieder zum Leben erwecken.

Lange Zeit bildete das Ende des Reitersmannes den Gesprächsstoff in Edemissen. Indessen wuchs auf dessen Grabe eine wundersame Blume. Es war eine wundervolle Lilie, die selten große Blütenblätter von schneeiger Weiße hatte. Niemals noch hatte jemand eine Blüte in solcher Pracht gesehen. Sie blüht immer weiter auf, immer größer und schöner gestaltete sich der Blütenkelch. Eines Tages bildete sich in ihm eine goldene Inschrift, die niemand zu entziffern verstand. Man holte den Lehrer, den Pastor und andere Sprach- und Schriftkundige, keiner konnte die seltenen Zeichen deuten. Alle aber waren aufs tiefste über das wunderbare Erblühen erstaunt, und mehr noch als über den Reiter redeten nun die Leute von dieser Wunderblume. So kam es, daß schließlich ein Geistlicher, der in einem entfernten Orte seinen Wohnsitz hatte, von ihr hörte. Dieser kluge Mann hatte schon manches Schrifträtsel gelöst, und es reizte ihn darum, das seltene Gewächs kennen zu lernen und seine Kunst zu erproben. Als er die Wunderblume sah und in ihrem Kelch die rätselhafte Inschrift las, dachte er lange nach, aber am Ende gelang es ihm dennoch, sie zu entziffern. In der Blume stand: „Zwischen Himmel, Erde und Steigbügel gedachte ich an Gott, bekehrte mich und bin selig geworden!“

Das ist die Sage von der Wunderblume zu Edemissen. Lange Zeit war sie in Vergessenheit geraten, aber eines Tages tauchte sie aus dem Dunkel wieder auf und wurde weiter erzählt.