Die Rachegeister

Von altersher gilt es als eine ganz besonders schwere Freveltat, wenn jemand von den Gräbern der Verstorbenen den Blumenschmuck stiehlt. Die Mütter warnen ihre Kinder mit ernsten Worten vor der Beraubung der Gräber. Die Warnung wird stets in die Worte gekleidet: „Wer Blumen von den Gräbern der Toten nimmt, dessen frevelnde Hand muß dereinst aus dem eigenen Grabe wachsen!“ Das muß schon ein merkwürdiges Kind sein, auf dessen Gemüt diese schwere Drohung keinen Eindruck macht. Die Folge dieser eindringlichen Erziehungsmaßnahme ist die, daß die Friedhöfe in unserm Kreise vorbildliche Schmuckstätten sind, deren Pflege zur unumstößlichen Sitte, zum ungeschriebenen Gesetz, geworden ist.

Nun hat aber doch einmal eine alte Frau in Oberg eine Ausnahme gemacht. Sie arbeitete auf dem Gute und ging, wenn sie sich zur Arbeit nach dem Hofe begab, zwischen Kirche und Gutsgarten am Graben, der jetzt schon lange zugeschüttet ist, entlang. Zu jener Zeit wurde gerade die Kirche, die für die angewachsene Bevölkerung zu klein geworden war, umgebaut. Da lagen auf dem Friedhof, der sich damals noch um das Gotteshaus ausbreitete, viele Dinge herum: alte Grabsteine, zerbrochene Teile von Denkmälern, Einfassungen, Bauschutt u. a. m. An jenem Tage fiel der Frau ein schön rund geformter Stein am Wege ins Auge. Mochte er ehemals wichtiger Bestandteil eines Grabmales gewesen sein, so lag er jetzt zwecklos an der Seite. Die Frau benötigte gerade um diese Zeit einen solchen für ihr Sauerkrautfaß. Als sie nun eines Abends in der Dämmerung allein am Graben entlang kam, überwand sie ihre Bedenken, hob den runden Stein auf, wickelte ihn in ihre Schürze und trug ihn nach ihrem Hause. Dort angekommen, säuberte sie ihn gründlich, paßte ihn auf das Faß und freute sich wie ein König, als er seinen Zweck vortrefflich erfüllte.

Langsam kam die Nacht heran, und es wurde Bettgehenszeit. Als die alte Mutter ihr Nachtlager aufgesucht hatte, wollte der erquickende Schlaf lange nicht kommen. Leise bohrte in ihrem Innern der vorwurfsvolle Gedanke, daß sie den Toten etwas genommen habe und daß dies gegen die gute Sitte verstoße. Aber sie beschwichtigte ihr Gewissen mit der Feststellung, daß der nutzlos gewordene Stein doch noch einen guten Zweck erfülle. So schlief sie denn doch ein. Als sie eine geraume Zeit im Schlummer gelegen hatte, wachte sie plötzlich auf, war gleich hellwach und horchte. Da war doch etwas Unheimliches im Gange? Sie brauchte auch gar nicht lange zu warten, da erklang eine unheimliche Stimme wie das Jaulen einer Katze, aber so hohl, daß man sogleich merkte, daß dos nicht mit rechten Dingen zuging. Jetzt bellte dazwischen auch noch eine Hundestimme; jedoch war das ein Ton, wie sie ihn noch nie in ihrem Leben von dem vierbeinigen Wächter wahrgenommen hatte. Doch dabei blieb es nicht! Das Gejaule und Gekläff nahm ständig an Stärke zu. Die arme Frau wußte keinen Rat, was sie dagegen machen sollte. Sie hielt sich die Ohren zu, aber der Krach wurde nur schlimmer. Schließlich sprang sie aus dem Bette, warf sich in aller Eile ihre Kleider über, stürzte die Treppe hinunter nach der Speisekammer, riß den Stein aus dem Fasse und lief nach dem Friedhofe. Dort warf sie den Stein voller Entsetzen fort. Erleichtert kam sie nach Hause zurück.

Das Haus lag still und friedlich da. Kein Laut war zu hören! Friedvoll verlief die Nacht. Am andern Morgen horchte die Ängstliche in der Nachbarschaft herum, ob jemand etwas von dem Spuk gehört hatte. Niemand hatte etwas von dem Lärm gemerkt. Nur ein paar hatten einen Hund bellen und eine Katze schreien hören, das war alles. Da wußte die Gutsarbeiterin, daß sie von den Geistern der Verstorbenen gewarnt war. Nun freute sie sich, daß sie so schnell das Richtige getan, nämlich den Toten das Ihrige wieder hingetragen hatte.