Die Kornhexe

Zwischen den schlanken Halmen der Roggen-, Weizen- und Gerstenfelder locken die blauen Blüten der Kornblume, leuchtet der Klatschmohn und blüht die Kornrade.

Wenn nachmittags die Kinder ins Feld eilen oder die Gänse auf den Graswegen hüten, ist die Versuchung groß, der Lockung zu folgen und viele der lieblichen Blüten zu pflücken. Aber sie wagen sich an die Blumen in den Ährenfeldern nicht heran. Sie fürchten die Kornhexe, auch Rahlfrau genannt. Lieber pflücken sie dicke Sträuße von Vergißmeinnicht oder binden Kränze aus Marienblumen, mit denen sie ihre blonden Flachsköpfe schmücken.

Einst waren aber doch einmal zwei Lengeder Jungen vom Wege ab in das Kornfeld des Bauern Hansen gesprungen. Sie hatten dem Locken der bunten Blüten nicht widerstehen können. Dabei zertraten sie viele der hochstengeligen Ähren, die in voller Pracht im Winde wogten. Auf einmal bewegten sich die Halme vor ihnen weit auseinander, und vor ihnen stand eine wunderlich aussehende Frau. Ihr Gewand bestand aus Kornraden, weshalb sie ja Rahlfrau genannt wird. Ihre Zöpfe waren aus lauter Kornblumen geflochten. Auf ihrem Kopfe trug sie einen Kranz aus leuchtend rotem Klatschmohn. Die Kinder erschraken vor der Kornhexe und wollten flüchten. Es ging jedoch nicht. Der böse Blick der Frau bannte sie, so daß sie kein Glied rühren konnten. Die Angst schnürte ihnen die Kehle zu, daß sie keinen Schrei ausstoßen konnten. Nun faßte sie die Kornhexe und drückte sie an ihre Brust. Sie mußten ihre schwarze Milch trinken. Darauf war die Rahlfrau so rasch verschwunden, wie sie gekommen war. Den Kindern aber blieb durch die schwarze Milch das Blut ganz vergiftet. Wer sie erblickte, der erschrak gewaltig; denn sie waren schwarz wie Mohren und blieben es bis zur nächsten Ernte. Da half keine Seife, keine Salbe und keine Medizin!

Nie wieder setzten diese beiden Jungen ihre Füße in ein Kornfeld, das könnt ihr mir gewiß glauben!