Der Moorkerl
In den Ortschaften um Horst-
und Glindbruch erzählten die alten Leute abends in der Spinnstube die
Geschichte vom Moorkerl.
Dort, wo sich Horst- und
Glindbruch ausbreiten, lag früher gutes Ackerland. Inmitten fruchtbarer Felder,
saftiger Wiesen und Weiden stand ein stattlicher Bauernhof. Knorrige Eichen und
schlanke Birken beschützten das stolze Niedersachsenhaus. Schmucke Pferde
gingen vom Hofe und brachen mit blankem Pfluge die Scholle. Voller Kraft
stapften sie in der Erntezeit vor den schwerbeladenen Fudern mit Korn einher.
Glatte Rinder füllten die Koppelweiden. Auf grünem Anger hütete der Schäfer
mit scharfem Auge die große Schafherde. Seinem Winke gehorchten aufmerksame Schäferhunde,
die allzu vorwitzige Leckermäuler von den schwellenden Saaten fernhielten.
Unabhängig wie ein König saß
ein Freibauer auf diesem Hofe. Jahr für Jahr mehrte sich sein Reichtum. Mit
Zufriedenheit überschaute er seinen Besitz. Das konnte er auch; denn hatte er
nicht die edelsten Pferde weit und breit, für die alle Händler gern blitzende
Goldfüchse auf de Tisch legten? Besaß er nicht Rinder von bester Zucht, die
auf den Märkten ringsum begehrt waren? Trugen seine Schafe nicht die beste
Wolle, aus der feinstes Garn gesponnen und gutes Tuch gewebt wurde? Barsten
seine Böden nicht von der Fülle des Korns? Enthielten seine Truhen nicht
schneeiges Leinen bis an den Rand?
Ja, ihm blühte das Glück mit
treuem Weibe und gesunden Kindern. Knechte und Mägde zeigten vom Morgen bis zum
Abend ein fröhliches Gesicht. Kein böses Wort fiel; jeder tat freudig seine
Arbeit. Es war so, als ginge auf diesem Hofe alle Arbeit nur halb so schwer, als
wäre alle Mühe leichter als anderswo. Keiner seiner Leute konnte sich
beklagen, daß er nicht sein Recht bekomme. Gab es an seinem Tische nicht das kräftigste
Brot, den saftigsten Schinken, die schmackhafteste Wurst, den reinsten Honig,
die beste Butter? Doch, es war alles in bester Ordnung! Es gab auch kein
Geheimnis, woran dies alles lag. Auf diesem Hofe herrschte noch die gute, alte
Sitte, das ungeschriebene Gesetz der Väter, das jedem ohne viele Worte sein
Recht gab. Auch der sinnvolle Brauch, der den Jahreslauf ausschmückt, hatte
hier eine Heimstätte. Das Wirken jedes Einzelnen war in das Ganze eingefügt
und griff wie ein Rädchen in das andere. Der Geist des Hofes fand in der
Inschrift, die von der Dieleneinfahrt herabgrüßte, seinen klaren Ausdruck:
Am guten Alten in Treue
halten, aber auf dem alten Grunde Gutes wirken jede Stunde!
War das eine Lust, wenn auf
dem Hofe das Erntedankfest gefeiert wurde. Heiterkeit und Frohsinn belebten alle
Gesichter, wenn die Erntekrone dem Hofherrn übergeben wurde. Der Großspänner
und die Großmagd trugen die altüberlieferten Erntesprüche vor. Der Bauer
sagte allen fleißigen Helfern Dank für ihre Mühe und lud zum Erntebier ein.
Wie eine große Familie feierten der Hofbesitzer, seine Angehörigen und das
Gesinde den Festtag mit Feiertagsessen, frischem Trunk und fröhlichem
Volkstanze. Kein Mißklang störte die Eintracht. Lustig flatterten die bunten Bänder
der Erntekrone, wenn das Haus von dem Gestampfe der Tanzenden und den Klängen
der Dorfmusik, den heiteren Liedern und dem Jauchzen der Jugend erfüllt war.
Niemandem wäre jemals der
Gedanke gekommen, daß diese Insel des Friedens einmal von einer Welle des Bösen
überflutet werden könnte. Jedoch das Unglück schläft nicht! Es liegt ständig
auf der Lauer, um alles Glück restlos zu zerstören. Auch diesen Hof sollte es
bei der ersten Gelegenheit überfallen; und das kam so:
Immer waren auf dem Hofe gern
gesehene Gäste. Einer der vielen Freunde gab unbedacht den Anstoß zur
Schicksalswende durch‘ ein unbedachtes Wort. „Alles ist schön bei dir!“
sagte er, „nur eines gefällt mir nicht! Dein Besitztum ist nicht größer
geworden. Du übergibst den Hof Deinem Sohne so, wie Du ihn von Deinen Vätern
übernommen hast. Warum sollen nicht noch mehr Äcker, Wiesen und Weiden
hinzukommen? Die Heide da draußen wartet doch auf den Pflug. Würdest Du nicht
der größte Bauer weit und breit werden?“
Der Bauer kam seit diesem Tage
nicht mehr zur Ruhe. Früher überschaute er mit Wohlgefallen das schöne Gehöft,
die stolzen Eichen, die grünenden Fluren. Jetzt wünschte er plötzlich selber,
die weiten Heideflächen, die Heimstatt zahlreicher Wildarten, urbar zu machen.
Tag für Tag ging es auf die Heide hinaus. Kiefern, Heide, Wacholder, Ginster
und Hülsedorn fielen der Axt und der Plaggenquicke zum Opfer. Stuken wurden
ausgerodet, der Boden umgepflügt. Kräfte und Geräte wurden verbraucht. Es kam
bald so, daß an der richtigen Stelle die Leute fehlten. Der Bauer war so tief
in sein Vorhaben verbohrt, daß er das nicht bemerkte. Er hatte keine Ruhe, wenn
es auf der Heide nicht voranging. Keiner konnte es ihm recht machen. Das Gesinde
verlernte das Lachen. Die frohen Gesichter machten mürrischen Mienen Platz.
Anstelle des unbeschwerten Dahinlebens traten Seufzer und heimliche Auflehnung.
Der Ertrag der guten Acker ging zurück, das brachte neuen Ärger und Verdruß;
denn die Schuld wurde denen aufgebürdet, die dafür nicht verantwortlich waren.
Schließlich litt auch das Vieh, das der Stolz der ganzen Gegend gewesen war.
Das Futter hatte nicht mehr den früheren Wert, weil es nicht zur gegebenen Zeit
eingebracht wurde. Der Herr hatte auch kein Auge mehr für die gute Auslese des
Jungviehes.
Wo aber blieb der Ertrag der
neuen Äcker? Es schien so, als hätte der Teufel die Hand im Spiele, als hätte
er den falschen Rat gegeben. Die Saat lief auf, gedieh zuerst prächtig, dann
jedoch wurde sie gelb und braun und verkümmerte. Dagegen wuchsen Brennesseln,
Disteln, Melden und Winden um so üppiger. Dem neu eingesäten Korn ging es
nicht besser. Alle Rechnung schlug fehl. Endlich kam es so, daß der Bauer
infolge der dauernden Fehlschläge ein mürrischer Mann wurde, dem jeder nach Möglichkeit
aus dem Wege ging.
Die Bäuerin versuchte zuerst,
sich dem kommenden Unheil entgegenzustemmen. Sie hielt mit Güte und Liebe alles
bei der Stange. Sie erweckte in allen die Hoffnung, daß der Bauer eines Tages
wieder zur Vernunft kommen würde. Als aber heftige Auseinandersetzungen
zwischen ihm und seiner Frau zur Tagesgewohnheit wurden, da schied einer nach
dem andern aus dem Dienste. Die guten Knechte gingen, schlechte kamen. Der fleißigen
und ordentlichen Magd folgten liederliche und faule. Traten der Bäuerin darüber
die Tränen in die Augen, so verhöhnte der Mann sie noch obendrein. So ging
alles den Krebsgang.
Zu diesem Zeitpunkt begann der
Bauer, an den Sonntagen auf die Heide zu fahren. Zur besonderen Freude der bösen
Knechte nahm er eine Steinkruke voller Branntwein mit hinaus, das zog die üblen
Gesellen ohne viele Worte mit. Als wieder ein Sonntag herankam und die Bäuerin
sich zum Kirchgange rüstete, belud der Ruhelose den Acker- wagen mit den nötigen
Geräten, füllte die Körbe mit Brot und Wurst und vergaß auch den Schnaps
nicht. Ehe sich die Frau auf den Weg nach dem Gotteshause begab, rief sie ihrem
Manne zu: „Vergiß das Beste nicht!“ Er aber schrie zurück: „Und wenn ich
ewig Heide pflügen müßte, so führe ich doch hinaus!“ So verließen beide
in Unfrieden den Hof.
Die Kleinmagd blieb allein im
Hause zurück, um auf das Hauswesen zu achten und nach dem Essen zu sehen.
Nachdem sie das Feuer in Gang gebracht hatte, ging sie an die Arbeit. Sie legte
das Suppenfleisch in den Topf, schälte die Kartoffeln und stellte sie bereit.
Nach geraumer Zeit trat sie ihren Rundgang durch das Haus an. In den Stuben und
Kammern schaute sie nach dem Rechten, wischte hier und da den Staub weg, schob
eine Decke, ein Kissen zurecht und gab den Zimmerblumen frisches Wasser. Danach
schritt sie über die lange Diele, wo das Vieh, das nicht im Freien weidete,
aufgestellt war. Hier band sie ein Rind, das sich losgerissen hatte, wieder
fest, kuschte die Hühner von der Diele, schloß hinter sich das Heck und eilte
schnell über den Hof, um auch dort Umschau zu halten. Schon wollte sie
umkehren, da blieb sie doch stehen und blickte nach Norden. Dort ballte sich ein
Unwetter zusammen. Das fiel ihr auf, weil man am Nordhimmel wohl ein Gewitter
ziehen sehen konnte, nie aber, daß sich eines bildete. Wohl wurde sie ein wenig
ängstlich, weil sie ganz allein im Hause war. Im guten Glauben, daß das Wetter
fortziehen würde, beschwichtigte sie ihre Sorgen und kehrte ins Haus zurück,
um die Arbeit wieder aufzunehmen. Das Feuer auf dem offenen Herde wollte neue
Nahrung haben, so warf sie Splittern auf die Glut. Gleich danach fing das Wasser
im Kessel wieder an zu summen. So gab sie ihm einen sanften Stoß, daß er
langsam über dem Feuer schaukelte, damit der Inhalt nicht überkochte. Sie
legte Suppenkräuter und Kartoffeln hinein und rührte die Suppe ein wenig um.
In diesem Augenblicke erschütterte
ein gewaltiger Donnerschlag das ganze Haus. Gleichzeitig wurde es ganz finster,
und ein Windstoß blies über die Diele hin. Die Magd erschrak und lief verängstigt
nach der Tür, um Ausschau zu halten. Da sah sie am Himmel eine schwarze Wolke,
die sich über die Heide geradezu auf das Haus heranschob. Mit Entsetzen
bemerkte sie, wie aus der Spitze der Wolke immerfort grelle Blitze herabzuckten,
die alle in die Heide einschlugen. Dabei lag über der Erde ein dichter,
schwarzer Rauch, der das, was sich da zutrug, den menschlichen Blicken entzog.
Das tapfere Mädchen, dem vor Schrecken fast das Herz stillstehen wollte, faßte
sich mit äußerster Willenskraft, schloß geistesgegenwärtig die Tür, löschte
das Feuer auf dem offenen Herd und faltete die Hände zum Gebet, um Gott um
seinen Beistand zu bitten, wie es die Mutter gelehrt hatte. Sie sah noch, wie
die einschlagen- den Blitze das dunkle Haus erhellten und in Flammen setzten.
Alles, was sonst geschah, erlebte sie wie im Traume, so daß sie später nicht
sagen konnte, wie sie gerettet worden war.
Die Bäuerin kehrte um diese
Zeit mit den wenigen Leuten, die ihr an- hingen, vom Kirchgang zurück. Schon in
der Kirche hatten sie das ferne Grollen des Donners vernommen. Als sie voller
Unruhe nach Hause eilten, sahen sie das Unwetter heranziehen und sein
grauenvolles Vernichtungswerk verrichten. War der Schrecken schon riesengroß,
als man von ferne das Unglück sich vollziehen sah, so wurde er unbeschreiblich,
als man an die Stätte kam, wo ehemals der stolze Hof gestanden hatte.
Schauriges Moor breitete sich über all dem aus, was der Bauer sein Eigentum
genannt hatte. Von ihm selbst und seinen Knechten war keine Spur zu finden. Sie
alle hatte der Boden verschlungen. Allein die Kleinmagd hatte den Schrecken überlebt,
weil sie Gott um Hilfe angefleht hatte.
Wenn am Abend die Sonne sich
schlafen legt, wenn alle Menschen, von des Tages Last und Mühe ermattet, zu
Hause der Ruhe pflegen, dann speit das Moor den Bauern und seine Knechte aus,
die dort unten keine Ruhe finden können. Tag für Tag, Sonntag für Sonntag müssen
sie ohne Rast und Ruh die Heide beackern. Man hört ihr unheimliches Rufen:
„Hu - u - u!“ über das
Moor erklingen. Niemand kann die armen Seelen von ihrer Qual erlösen.
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