Der Glockenstein

An der Landstraße von Rosenthal nach Hofschwicheldt steht ein altersgrauer Findling, der Glockenstein. Er ist vom Zahn der Zeit zernagt und schaut nur ein wenig aus dem hohen Grase hervor. Die Vorüberkommenden gehen achtlos an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Und doch ist er der Beachtung wohl wert; denn es hat mit dem Stein eine eigene Bewandtnis, die nur noch wenige wissen. Von einem alten Rosenthaler lassen wir uns seine Geschichte erzählen.

Vor langer, langer Zeit hat einmal ein Jüngling aus Peine bei einem tüchtigen Meister in Hildesheim das edle Handwerk der Glockengießer erlernen wollen. Das ist ein Beruf, der viel Mühe und Fleiß, viel Klugheit und Geschick und mancherlei Kenntnisse und Handfertigkeiten erfordert. Zudem legt er sowohl dem Lehrling, wie auch dem Gesellen ein langes Leben der Entsagung auf. Der schönste Lohn ihrer Arbeit, einmal selber den Zapfen des Schmelzofens auszustoßen, bleibt ihnen verwehrt. Dieses Recht hat allein der Meister; denn von seinem Geschick hängt das Gelingen des ganzen Werkes ab. Hohe Strafen werden demjenigen auferlegt, der dieses Gesetz durchbricht.

Obwohl unserm Peiner Glockengießerjungen das alles bekannt war, hat er diese eherne Regel eines Tages durchbrochen, Ihr fragt: „Wie war das möglich?“ Nun, es war wieder einmal alles für einen Glockenguß vorbereitet. Man wartete auf den Meister, aber der kam nicht. Alle wurden ängstlich, der Guß könne mißlingen. Die Prüfung der Glockenspeise hatte gezeigt, daß „es zum Gusse zeitig“ sei. Aber der Meister verzog; niemand wußte warum. Plötzlich juckte es dem Jüngling so in den Fingern, daß er, ohne zu überlegen, nach der Eisenstange griff und den Zapfen mit gewaltigem Stoß aus dem Gußloch trieb. Mit großer Umsicht lenkte er die flüssige Glockenspeise in die vorgeschriebene Bahn, öffnete und schloß Rinne auf Rinne und vollendete mit traumhafter Sicherheit das Werk. Voller Schrecken waren auch die anderen zugesprungen, um zu helfen. Erst nachdem die letzten Handgriffe erledigt waren, schien es, als erwache der Kühne aus seinem Traum. Nicht Freude strahlte aus dem Gesicht, sondern kaltes Entsetzen entstellte seine Züge. Jetzt erst kam es ihm zum Bewußtsein, daß sein Tun ungesetzlich gewesen war und hohe Strafe auf ihn wartete. Da trieb ihn die Angst zu schneller Flucht, und in größter Eile begab er sich auf den Weg nach Peine.

Der Meister, der bald danach in der Werkstatt auftauchte, sah dort, was geschehen war. Erbost schwang er sich auf sein Pferd und machte sich an die Verfolgung des Flüchtenden. Im Angesicht der rettenden Mauern von Peine holte er den Unglücklichen ein und nahm ihm das Leben. Zur Erinnerung an dieses unglückliche Geschehen wurde später der Glockenstein als Sühnezeichen gesetzt.